VDA-Mittelstandstag
Automobiler Mittelstand: Mehr als jedes dritte Unternehmen plant Investitionsverlagerung ins Ausland
Umfrage zeigt: Rund jedes zweite Unternehmen muss Beschäftigung in Deutschland abbauen – Bürokratie belastet die Unternehmen zunehmend – Unternehmen unzufrieden mit EU-Handelspolitik –VDA-Mittelstandstag in Bonn eröffnet
Der 24. Mittelstandstag des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) wurde heute in Bonn eröffnet. Unter dem Titel der zweitägigen Konferenz "Standort und Zulieferer stärken: Künstliche Intelligenz als Treiber der Transformation“ geht es thematisch unter anderem um den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Produktion und den Lieferketten.
„Die Transformation sowie der sich verschärfende internationale Wettbewerb fordern insbesondere die Unternehmen des automobilen Mittelstandes stark. Ich bin jeden Tag beeindruckt, wie sie den Herausforderungen begegnen und mit welcher Innovationskraft, Entschlossenheit und hohen Investitionen sie den Wandel zu klimaneutraler und zunehmend digitaler Mobilität vorantreiben. Umso wichtiger ist es, dass die Unternehmen durch die richtigen politischen Rahmenbedingungen unterstützt und im internationalen Wettbewerb gestärkt werden. Doch Berlin und Brüssel tun bisher zu wenig: Regulierung allein ist noch keine Politik. Es braucht eine aktive Industriestrategie, einschließlich einer aktiven Handelspolitik", so VDA-Präsidentin Hildegard Müller anlässlich der Eröffnung des Mittelstandstages.
Hendrik Wüst, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, hält am ersten Konferenztag eine Keynote: „Ob beim Bau von Autos, Anhängern und Aufbauten oder der Herstellung von Zulieferteilen: In Nordrhein-Westfalen arbeitet der Motor der deutschen Automobilindustrie. Insbesondere die Zulieferbranche zeigt dabei, welches Innovationspotential in unserem Land steckt. Mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz kann der Mittelstand dabei neue Impulse setzen und die Vorreiterrolle Nordrhein-Westfalens als Digitalregion in Europa weiter ausbauen. So wird die Mobilität der Zukunft vor Ort gestaltet, die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und wichtige Arbeitsplätze bleiben im Land erhalten. Ich freue mich, dass der 24. VDA-Mittelstandstag im Automobilstandort Nordrhein-Westfalen zu Gast ist und auf die wichtigen Impulse, die aus Bonn in die Unternehmen in ganz Deutschland gesendet werden.“
Müller ging in ihrer Rede auch auf die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage ein, die der VDA unter den Automobilzulieferern (Herstellergruppe III) sowie den mittelständisch geprägten Herstellern von Anhängern, Aufbauten und Bussen (Herstellergruppe II) seit dem Frühjahr 2020 regelmäßig durchführt.*
In der Umfrage gaben gut acht von zehn (82 Prozent) Unternehmen an, eigentlich geplante Investitionen in Deutschland zu verschieben, zu verlagern oder ganz zu streichen. So plant mehr als jedes dritte Unternehmen (37 Prozent) eine Investitionsverlagerung ins Ausland. Verlagerungsziele sind andere Länder der EU, Asien und Nordamerika (in dieser Reihenfolge). Weitere 13 Prozent planen eine Streichung von Investitionen. Lediglich 1 Prozent der Unternehmen gab an, seine Investitionen in Deutschland angesichts der aktuellen Lage erhöhen zu wollen.
Müller: „Immer mehr Unternehmen des automobilen Mittelstandes planen, Investitionen ins Ausland zu verlagern. Für Berlin muss diese Entwicklung gleichermaßen Warnsignal wie Weckruf sein. Die Bundesregierung muss aufpassen, dass das industrielle Netzwerk, das den Wirtschaftsstandort Deutschland ausmacht, keinen Schaden nimmt. ´Weniger reden, konsequenter handeln´ muss die Devise lauten. Wettbewerbsfähige Energiepreise, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren, ein wettbewerbsfähiges Steuer- und Abgabensystem – die Liste der Aufgaben ist lang.“
Der Anteil der Unternehmen, die unter einem Mangel an Fach- und Arbeitskräften leiden, ist weiter hoch (68 Prozent). 52 Prozent der Unternehmen geben an, Schwierigkeiten zu haben, den kurz- und mittelfristigen Fachkräftebedarf zu decken. Um den Herausforderungen zu begegnen, greifen die Unternehmen vor allem auf eigene Ausbildung zurück. Während gut ein Viertel der Unternehmen (26 Prozent) angibt, den Fachkräftebedarf über den Arbeitsmarkt zu decken, setzen 45 Prozent zur Deckung der benötigten Fachkräfte hauptsächlich auf Ausbildung.
Nicht zuletzt sorgt die Transformation der Automobilindustrie in Richtung Klimaneutralität und Digitalisierung dafür, dass Beschäftigung trotz Fach- und Arbeitskräftemangel abgebaut wird. In der Umfrage gibt rund jedes zweite befragte Unternehmen (45 Prozent) an, aktuell in Deutschland Beschäftigung abzubauen. 16 Prozent geben hingegen an, Beschäftigung aufzubauen, in 38 Prozent der Unternehmen bleiben die Beschäftigungszahlen konstant. Der VDA wird die Auswirkungen der Transformation auf die Beschäftigung in der Automobilindustrie im Rahmen einer detaillierten wissenschaftlichen Studie beleuchten, die voraussichtlich im Oktober dieses Jahres veröffentlicht wird.
Bürokratie ist weiterhin Herausforderung Nummer 1
83,3 Prozent der befragten Unternehmen geben an, durch Bürokratie stark oder sehr stark belastet zu sein. Damit ist sie – wie bereits bei der letzten Umfrage im Oktober 2023 – Herausforderung Nr. 1 für den automobilen Mittelstand. Zudem zeigt sich: In keiner der vorherigen Umfragen lag dieser Wert höher.
Arndt G. Kirchhoff, Vorsitzender des Beirats der KIRCHHOFF Gruppe und VDA-Vizepräsident: „In puncto Bürokratie ist der automobile Mittelstand an der absoluten Belastungsgrenze, aber den Unternehmen wird immer mehr aufgebürdet. Hier muss die Politik endlich gegensteuern. Zudem müssen Maßnahmen zum Bürokratieabbau deutlich stärker als bisher auch den industriellen Mittelstand berücksichtigen.“
In der aktuellen Umfrage gaben 86 Prozent der Unternehmen an, durch das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Bürokratieentlastungsgesetz für sich keine Entlastung zu erwarten.
„Das geplante Bürokratieentlastungsgesetz bleibt insbesondere beim Abbau von Melde- und Informationspflichten weit hinter den Erwartungen zurück. Das ist insbesondere für den Mittelstand enttäuschend. Zudem gilt: Bürokratieabbau ist nur dann erfolgreich, wenn gleichzeitig auf neue komplexe Anforderungen, Berichts-, Nachweis- und Dokumentationspflichten verzichtet wird“, betont Müller.
Neben Steuern und Abgaben (65 Prozent) belasten weiterhin auch die hohen Strompreise die Unternehmen stark oder sehr stark (62 Prozent). Jedes zweite Unternehmen (50 Prozent) gab an, durch die Gaspreise stark oder sogar sehr stark herausgefordert zu sein.
Die Unternehmen schätzen auch Vorteile des Standortes Deutschland. Für den Standort Deutschland sprechen aus ihrer Sicht vor allem das industrielle Netzwerk, die duale Ausbildung, die Infrastruktur und die politische Stabilität.
Weitere Umfrage-Ergebnisse: 80 Prozent der Unternehmen sind der Ansicht, dass die Handelspolitik der EU nicht zum Wohl des industriellen Mittelstands beiträgt. Zudem erwarten 82 Prozent durch zunehmende Handelskonflikte negative Auswirkungen auf ihr Unternehmen.
„Freier und fairer Handel ist gerade für eine Exportnation wie Deutschland entscheidend für Wohlstand und Beschäftigung. In unserer Industrie hängen etwa 70 Prozent der Arbeitsplätze vom Export ab. Bei Freihandelsabkommen aber geht es viel zu wenig voran. Die EU und auch die Bundesregierung müssen sich deutlicher und entschlossener für offene Märkte einsetzen. Es braucht endlich eine aktive Agenda der EU für freien und fairen Handel und mehr Pragmatismus und Flexibilität bei den Verhandlungen von Freihandels- und Investitionsabkommen. Ein starkes Netz an Abkommen ist Voraussetzung dafür, Wirtschaftskraft und Wohlstand zu erhalten, Lieferketten zu diversifizieren, die Rohstoff- und Energieversorgung zu sichern und strategische Abhängigkeiten zu verringern. Nur eine starke und exportfähige Industrie wird die großen Herausforderungen der grünen und digitalen Transformation meistern können“, so die VDA-Präsidentin.
Müller weiter: „Bei aller Kritik an vielen europäischen Entscheidungen ist klar: Europa ist unverzichtbar – für Frieden und Sicherheit, als Wohlstandsgarant, als Binnenmarkt. Entscheidend ist: Wir brauchen eine relevante und gestaltende EU. In Brüssel muss sich dabei vor allem die Erkenntnis durchsetzen, dass wirtschaftliche Stärke die Voraussetzung für globale Klima- und Geopolitik im europäischen Sinne ist. Nur als globale Wirtschaftsmacht können wir auf Augenhöhe mit anderen Regionen der Welt kommunizieren, selbstbewusst auftreten und unsere Interessen wirkungsvoll vertreten.“
Die Umfrage zeigt zudem, dass die Potenziale von Künstlicher Intelligenz und Maschinellem Lernen erkannt werden: 36 Prozent der Unternehmen setzen Künstliche Intelligenz bereits ein, weitere 41 Prozent planen den Einsatz in absehbarer Zeit. Die Technologien werden vor allem in der Produktion und bei der Qualitätssicherung eingesetzt. Haupthemmnisse für einen schnelleren und tieferen Einstieg in die Technologie sind fehlendes Fachpersonal und der hohe Investitionsaufwand bei gleichzeitig begrenzten finanziellen Ressourcen/begrenztem Zugang zu Finanzierungen.
„Auf dem diesjährigen VDA-Mittelstandstag stehen die Themen Künstliche Intelligenz, Maschinelles Lernen und Datenstrategien weit oben auf der Agenda, denn deren Einsatz in der Produktion und in den Lieferketten birgt auch für den automobilen Mittelstand große Potenziale. Diese Potenziale erkennen immer mehr Unternehmen und heben sie. Der Austausch und die Diskussion der Branche untereinander hierzu sind ungemein wichtig und wertvoll“, so Kirchhoff, der das Amt des Vorsitzenden des VDA-Mittelstandsforums im Rahmen des VDA-Mittelstandstags an Isabelle Kirschbaum-Rupf, Gesellschafterin und Mitglied der Geschäftsleitung der Rupf Industries Gruppe sowie Mitglied im VDA-Vorstand, übergeben wird.
Weitere Ergebnisse der VDA-Umfrage: Während 22 Prozent der Unternehmen im laufenden Jahr eine Verbesserung ihrer Situation erwarten, gehen 24 Prozent von einer Verschlechterung aus. 54 Prozent erwarten eine Seitwärtsbewegung.
Die schwache gesamtwirtschaftliche Entwicklung geht an der Automobilzulieferindustrie nicht spurlos vorbei: Beeinträchtigt wird die Investitionstätigkeit in Deutschland aktuell vor allem durch die Absatzlage/Absatzerwartung. Von den Unternehmen, deren Investitionstätigkeit beeinträchtigt ist, gaben dies 41 Prozent als stärkste Beeinträchtigung an.
*Die Umfrage wurde vom 3. Mai bis 16. Mai durchgeführt. Es haben sich 143 Unternehmen beteiligt. Damit liegen dem VDA repräsentative Aussagen zur aktuellen Lage und den Perspektiven der Automobilindustrie vor.ussen (Herstellergruppe II) seit dem Frühjahr 2020 regelmäßig durchführt.