Moderne Mobilität
Zugriff auf fahrzeuggenerierte Daten
Interview mit Dr. Marcus Bollig, VDA-Geschäftsführer Produkt & Wertschöpfung, und Dr. Julian Weber, Senior Consultant der VDA-Fachabteilung Security, Daten & Digitalisierung
Interview mit Dr. Marcus Bollig, VDA-Geschäftsführer Produkt & Wertschöpfung, und Dr. Julian Weber, Senior Consultant der VDA-Fachabteilung Security, Daten & Digitalisierung
Interviewreihe des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA), erschienen am 04. Juli 2024 auf https://diserhub.de
Das Institut für Automobilwirtschaft (IfA) ist Teil des bundesweiten Transformations-Hubs „DiSerHub“. DiSerHub besteht aus fünf Forschungsinstitutionen, die gemeinsam an einer verbesserten, nachhaltigeren Nutzung von Automobilen mit Hilfe digitaler Services und digitaler Geschäftsmodelle arbeiten. In diesem Kontext stellen fahrzeuggenerierte Daten eine Grundvoraussetzung dar, um das Angebotsportfolio um datenbasierte Geschäftsmodelle zu erweitern. Es lassen sich diverse Potenziale identifizieren, mit denen Branchenakteure Daten im Rahmen neuer Geschäftsmodelle monetarisiert werden können. Mit dieser Interviewreihe möchten die Verantwortlichen des Instituts für Automobilwirtschaft (IfA) erfassen, welchen Blickwinkel unterschiedliche Branchenakteure zum Thema „Zugang zu fahrzeuggenerierten Daten“ einnehmen. Das Interview führten Jan Ole Thomas und David Sosto Archimio vom Institut für Automobilwirtschaft (IfA).
Als Verband der Automobilindustrie e. V. (VDA) vertreten Sie die Interessen von zahlreichen Automobilherstellern und Zulieferern. Haben die von Ihnen vertretenen Unternehmen Zugang zu fahrzeuggenerierten Daten?
Dr. Marcus Bollig: Grundsätzlich ja. Die von uns vertretenen Hersteller bringen heute fast ausschließlich vernetzte Fahrzeuge auf den Markt. Diese Fahrzeuge sind üblicherweise über eine „Over-the-Air“-Verbindung mit einem Server des Herstellers verbunden, an den dann Sensordaten aus den Fahrzeugsteuergeräten übertragen werden. Auch die Zulieferer, die der VDA ebenfalls vertritt, haben über entsprechende Schnittstellen und Vereinbarungen in unterschiedlichem Maße Zugriff auf diese Fahrzeugdaten. Nicht zuletzt werden fahrzeuggenerierte Daten natürlich auch für Diagnosen im Kontext von Service und Reparatur benötigt. Werkstätten greifen auf diese Daten heute typischerweise über eine Hardware-Schnittstelle am Fahrzeug, den sogenannten OBD-Stecker (On-Board-Diagnose), zu.
Auf welche fahrzeuggenerierten Daten sowie in welchem Umfang und in welcher Qualität haben diese Unternehmen Zugriff?
Dr. Marcus Bollig: Das hängt zum einen von den technischen Gegebenheiten in den Fahrzeugen ab. Welche Daten werden vom Fahrzeug generiert? Welche Übertragungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung? Gegebenenfalls gibt es auch technische Limitationen: Jeder Zugriff belastet die Ressourcen des Fahrzeugs, und ab einem bestimmten Maß kommen beispielsweise Rechenkapazitäten und Speicherauslastungen in Steuergeräten sowie Buslasten – also ein System, das die Datenmengen pro Sekunde überträgt – auf Kommunikationsleitungen an ihre Grenzen. Neben dieser technischen Verfügbarkeit kommt dann die juristische Verfügbarkeit zum Tragen, die in der DSGVO geregelt ist: Bei welchen Daten stimmt der Nutzende des Fahrzeugs explizit einer Weitergabe und Weiterverwendung zu? Liegt bei der Datenerfassung die erforderliche Zweckbindung vor? Nur mit dieser Zustimmung und für eine bestimmte Absicht dürfen Daten überhaupt übermittelt werden. Klar ist: Die Hoheit über die Daten liegt immer beim Fahrzeugkunden. Das ist für uns Leitmotiv.
In Summe führen all diese Rahmenbedingungen dazu, dass wir am Ende nicht alle in einem vernetzten Fahrzeug generierten Daten zur Verfügung stellen können – das ist weder technisch noch rechtlich machbar. Und es ist tatsächlich auch nicht sinnvoll. Zur Frage, wer heute schon welche Daten nutzt: Wir sehen bei den Herstellern unterschiedliche Angebote an datenbasierten Diensten, die von den Kundinnen und Kunden – oft auch über entsprechende Apps – abrufbar sind. Dazu gibt es auch Angebote der Hersteller an Dritte – natürlich nur mit Zustimmung der Nutzer – entsprechende Daten für Dienstleistungen zu verwenden. Diese Datenökonomie entwickelt sich zurzeit aber eher noch langsam, die Nachfrage bei den Herstellern ist nicht besonders hoch. In Zukunft wird sich die Frage stellen, wo sich attraktive Use Cases zu einem Business Case zusammenbinden lassen, sodass von der Datenverwendung durch Dritte sowohl Kunden als auch alle anderen Beteiligten profitieren. Hier liegt noch mehr Potenzial entsprechend erfolgreiche Projekte zu entwickeln – alle Beteiligten sind hier gefragt, schnelle und pragmatische Lösungsansätze zu finden, die auch die notwendige Geschwindigkeit ermöglichen.
Welche konkreten Anwendungsszenarien und Business Cases finden bereits heute statt?
Dr. Marcus Bollig: Es gibt sicher eine ganze Reihe von Angeboten, die Kunden heute schon aktiv nutzen. Dazu gehören typischerweise Apps der Hersteller, die dem Kunden den aktuellen Zustand des Fahrzeugs widerspiegeln, etwa den Verriegelungszustand oder den Tankfüllstand bzw. den Batterieladezustand des Fahrzeugs. Auch Fehlermeldungen oder Servicebedarfe werden den Kunden in den Apps heute schon angezeigt, beispielsweise auch der Verschleißzustand von Bauteilen wie Reifen oder der Starterbatterie. Hinzu kommen Zusatzfunktionen, die durch die Vernetzung mit dem Backend oder durch die Vernetzung über verschiedene Fahrzeuge hinweg ermöglicht werden, wie beispielsweise eine datenbasierte Glatteis- oder Schlaglochwarnung. Das sind im Prinzip auch die Informationen, die die Hersteller dem Kunden im Fahrzeug anzeigen, die aber auch durchaus an Dritte weitergegeben werden – so dass diese damit ebenfalls arbeiten und Geschäftsmodelle entwickeln können.
Welche weiteren Anwendungsszenarien und Business Cases sehen Sie zukünftig?
Dr. Julian Weber: Ideen für zukünftige Use Cases gibt es natürlich viele. Die Frage ist ganz einfach: Welche Anwendungen sind technisch machbar und machen für alle Beteiligten Sinn? Die optimale Nutzung der Ladeinfrastruktur durch Elektrofahrzeuge ist sicherlich ein Thema, in dem viele neue datenbasierte Services zu erwarten sind.
Dr. Marcus Bollig: Ein heute bereits etablierter Use Case ist das Flottenmanagement von Multi-Make-Fahrzeugflotten. Mithilfe solcher Datenangebote über mehrere Hersteller können diese Flotten dann deutlich besser gemanagt werden. Es gibt eine ganze Reihe solcher nutzerorientierten Dienste, die heute schon funktionieren, aber wir und alle anderen Stakeholder würden uns hier sicher nochmal eine deutliche Erweiterung wünschen.
Dr. Julian Weber: Wer heute auf das Dashboard eines Carsharing-Providers schaut, sieht auch sehr gut, welche Daten bereits von Fahrzeugen unterschiedlicher Marken „Over-the-Air“ bereitgestellt werden. Ich denke hier zum Beispiel an die Anzeige von Verfügbarkeiten der Carsharing-Autos innerhalb eines Gebietes.
Dr. Marcus Bollig: Es ist noch offen, welche weiteren Anwendungsszenarien zukünftig existieren könnten, das Potenzial ist riesig. Nicht nur Themen, die jetzt nur einzelnen Nutzern oder Unternehmen zugutekommen, sondern insbesondere Themen, die in Summe der Gesellschaft und Volkswirtschaft zugutekommen. Gerade zur nachhaltigen Mobilität erwarten wir bei einer konsequenten Nutzung von Daten noch einmal deutliche Fortschritte. Beim Thema Verkehrsführung bieten sich Möglichkeiten an, den Verkehrsfluss in Summe zu optimieren und so den Energieverbrauch und damit auch die Emissionen der Fahrzeuge zu reduzieren. Dies betrifft neben Schadstoffen und Treibhausgasen auch Emissionen wie Bremsstaub oder Reifenabrieb bei elektrischen Fahrzeugen. Ein gleichmäßiger und ungestörter Verkehrsfluss in der Stadt, mit wenigen Beschleunigungen und Bremsmanövern, wird dazu führen, dass wir das Thema Mobilität in der Stadt effizienter und sauberer machen. Auch das Thema Sicherheit spielt eine große Rolle, beispielsweise durch die aktive Warnung vor verkehrskritischen und gefährlichen Situationen wie Glatteis, Schlaglöchern oder dem Ende eines Verkehrsstaus, wie sie heute schon bei einzelnen Herstellern über die Vernetzung der Fahrzeuge etabliert ist. Hinzu werden kundenspezifische Angebote kommen, bei denen einzelne Anbieter sicher auch einen Mehrwert für die Kundinnen und Kunden und gleichzeitig noch einen Mehrwert für das Unternehmen generieren. Da wird man sehen, welche Arten von Serviceangeboten dann entstehen und sich durchsetzen.
Dr. Julian Weber: Ein Use Case, der hier meines Erachtens ganz hervorragend als Beispiel passt und auch schon öfter pilotiert wurde, ist die Auslieferung von Online-Bestellungen in den Kofferraum eines Autos („Trunk-Delivery“). Grundsätzlich möchte jeder Hersteller seinen Kunden so einen Service anbieten und hofft natürlich, sich dadurch auch von Wettbewerbern differenzieren zu können. Am Ende entscheidet sich der Kunde beim Kauf ja vielleicht genau deshalb für Fahrzeug A, weil es diesen Dienst anbietet, und Fahrzeug B eben nicht. Gleichzeitig lassen sich an diesem Beispiel auch gewisser Schwierigkeiten festmachen: Ich muss dazu dem Online-Lieferanten ja nicht nur die aktuelle Geoposition nennen, sondern ihm auch den Zugriff auf das Kofferraumschloss gewähren. Und irgendjemand sollte dabei dann garantieren, sicherstellen und verantworten, dass der Kofferraum eben nicht bei 150 km/h auf der Autobahn geöffnet wird, dass er nach der Zustellung wieder geschlossen wird, dass ihn nicht ab diesem Zeitpunkt jeder Zusteller zu jedem Zeitpunkt öffnen kann und so weiter. Hier wird deutlich, welche spannende Mehrwertdienste für Hersteller, Dienstleister und Kunden gleichermaßen mit Fahrzeugdaten möglich sind – aber eben auch, welche Fragen dabei zu klären sind. Fest steht: Für die Sicherheit und Typgenehmigungskonformität des Fahrzeugs wird am Ende immer der Hersteller verantwortlich sein.
Gibt es da vielleicht auch Perspektiven, die Ihnen ein bisschen „Bauchgrummeln“ bereiten, wenn wir über diese Anwendungsszenarien, die Sie gerade perspektivisch genannt hatten, in die Zukunft blicken?
Dr. Marcus Bollig: Wichtig ist die breite Verfügbarkeit und eine sehr gute Zugänglichkeit dieser Daten, damit sich Geschäftsmodelle entwickeln können. Zentral ist und bleibt der Datenschutz für die Kunden. Die gesetzlichen Anforderungen an Cyber-Security und Funktionssicherheit der Fahrzeuge und damit an deren Verkehrssicherheit sind zu Recht sehr hoch. Der Zugriff auf die Daten über eine einzige Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Server des Herstellers stellt hier eine sichere und erprobte Lösung dar. Es gilt jetzt, gemeinsam mit allen Beteiligten Regulierungen auszuarbeiten, in denen für alle ein Mehrwert durch diese Datenökonomie entsteht: Für diejenigen, die die Daten zur Verfügung stellen, diejenigen, die die Daten weiterverarbeiten wollen, und für den Kunden. Denn wenn für alle Beteiligten in diesem System ein Mehrwert entsteht, dann wird sich auch eine Eigendynamik entwickeln. Wenn wir das bei einem der Beteiligten nicht schaffen, dann ist das Risiko hoch, dass die Motivation an dieser Stelle gering bleibt und wir diese Dynamik eben nicht sehen werden, die wir uns gemeinsam wünschen.
Dr. Julian Weber: Und es gibt das Risiko, dass eine mögliche Regulierung zu einseitig und daher kontraproduktiv wird. Ein Daten-Ökosystem besteht eben letztlich aus Herstellern, Diensteanbietern und Kunden, die gemeinsam einen Mehrwert für sich sehen.
Ganz plastisch gesprochen, wenn Sie jetzt sagen, Sie sehen den Schlüssel zu einem Mehrwert generierenden Konstrukt in dieser Eigendynamik. Was wäre dann ein denkbares Modell? Also es gibt beispielsweise den Datentreuhänder, über den gesprochen wird, wäre so etwas eine Möglichkeit zur Umsetzung, oder wie könnte man sich das vorstellen?
Dr. Marcus Bollig: Unsere Aufgabe als Industrie ist es, den Datentransfer zwischen demjenigen, der Daten anbietet, und demjenigen, der Daten nutzt, zu unterstützen. In Use Cases mit ganz besonderen Anforderungen an Vertraulichkeit und Anonymisierung kann hier der Einsatz eines Datentreuhänders sinnvoll sein. Der Einsatz des Treuhänders muss dann für den Datentransfer einen klaren Mehrwert haben. Wenn wir jede einzelne Datenübertragung über einen Treuhänder laufen lassen, würden wir aus meiner Sicht nicht effizienter, nicht schneller und nicht kostengünstiger im System werden – sondern ganz im Gegenteil. Das müssen wir also vermeiden.
Gibt es konkrete Forderungen, welche Sie platzieren möchten, also beispielsweise in Richtung Politik? Hier steht jetzt Hersteller mit dabei, oder Datentreuhänder oder Fahrzeughalter, also gibt es solche zentralen Forderungen eben mit Blick auf die Nutzung von Fahrzeugdaten, die hier zur Sprache kommen sollen? Gibt es zentrale Forderungen von Ihnen in der Verbandsrolle mit Blick auf die Nutzung von Fahrzeugdaten in Hinsicht auf die Politik?
Dr. Marcus Bollig: Unser Eindruck ist, dass alle Beteiligten, Kunden, Hersteller und Zulieferer ein Interesse daran haben, dass diese Datenökonomie funktioniert, sich entwickelt und ständig wächst. Entscheidend dabei sind immer die Sicherheit der Fahrzeuge und die Privatsphäre der Kunden. Das sind strenge Randbedingungen. Natürlich gibt es immer das Risiko einer Überregulierung, die uns eher hemmt als fördert. Deshalb wäre meine erste und wichtigste Forderung, die Zusammenarbeit bei der Entwicklung dieser Regulierungen und Anforderungen weiter zu intensivieren. Je enger man im Dialog ist und je mehr man sich zwischen den Stakeholdern austauscht, desto besser wird das Endergebnis. Zu diesen Stakeholdern gehören Hersteller, Zulieferer, aber auch Kundenvertreter wie der ADAC, Verbraucherschützer und die Politik, insbesondere natürlich die gesetzgebenden Organe. Wir sind in einem intensiven Austausch mit allen, um diesen optimalen Punkt zu finden. Und das ist aus meiner Sicht erfolgsentscheidend.
Das zentrale Erfolgskriterium sozusagen. Mit welchen Herausforderungen sehen Sie sich innerhalb der Erschließung datenbasierter Geschäftsmodelle konfrontiert (aktuell und perspektivisch)?
Dr. Julian Weber: Die Verfügbarkeit von Daten ist sicherlich eine Herausforderung. Natürlich kann ich grundsätzlich aus jedem Steuergerät Daten nehmen und aus dem Fahrzeug übertragen. Doch wie bereits erwähnt, hängt die Möglichkeit der Bereitstellung von vielen Faktoren ab. Auch wenn diese Vorstellung öfter genährt wird: Es gibt nicht diesen sogenannten „Digitalen Zwilling“ auf einem externen Server, der alle im Fahrzeug generierten Daten in Echtzeit enthält. Das ist technisch weder möglich noch sinnvoll und auch durch DSGVO-Grundsätze, Zweckbindung und Datenminimierung rechtlich nicht machbar.
Dr. Marcus Bollig: Grundsätzlich ist aus unserer Sicht eine Erweiterung und Harmonisierung des Angebots auf jeden Fall wünschenswert. Wichtig ist dabei, dass die Souveränität über die Datennutzung beim Fahrzeugnutzer liegt und es ohne dessen Zustimmung nicht zu einer Verarbeitung dieser Daten kommt.
Bitte vervollständigen Sie abschließend den nachstehenden Satz: Der Zugriff auf fahrzeuggenerierte Daten ist für…
Dr. Marcus Bollig: … unsere Mitglieder besonders wichtig, da wir erwarten, dass auf dieser Basis zukunftsweisende Geschäftsmodelle entstehen können, die sowohl für Kunden, Hersteller als auch Zulieferer Möglichkeiten der Wertschöpfung und Weiterentwicklung bieten. Gleichzeitig sorgen sie für mehr Sicherheit im Straßenverkehr und für eine nachhaltigere Mobilität.