Mobility Innovation Summit 2025

    „Die Zukunft des Fahrzeugs liegt im Code!“

    Interview mit Georges Massing, Vice President MB.OS Automated Driving & E/E Integration bei der Mercedes-Benz AG, über das Konzept des Software-Defined Vehicle (SDV) und die Frage, wie Software das Automobil neu definieren kann

    Interview mit Georges Massing, Vice President MB.OS Automated Driving & E/E Integration bei der Mercedes-Benz AG, über das Konzept des Software-Defined Vehicle (SDV) und die Frage, wie Software das Automobil neu definieren kann

    Herr Massing, was sind aus Ihrer Sicht die Treiber in der Entwicklung hin zum Software-Defined Vehicle (SDV)?

    Massing: Moderne Fahrzeuge sind hochvernetzte Systeme mit einer Vielzahl von Steuergeräten und Sensoren. Anstatt diese Komplexität weiter durch zusätzliche Hardware zu steigern, ermöglicht Software eine effizientere, flexiblere und zukunftssichere Architektur. Sie reduziert die Abhängigkeit von spezialisierter Hardware, ermöglicht kontinuierliche Weiterentwicklung und macht das Fahrzeug anpassungsfähiger denn je. Genau diese Vorteile treiben die Entwicklung von Software-Defined Vehicles voran.

    Außerdem sind unsere Kundinnen und Kunden eine intuitive, nahtlos vernetzte digitale Welt gewöhnt und sie erwarten das Gleiche von ihrem Fahrzeug. Ein modernes Auto sollte sich genauso nahtlos in ihr digitales Ökosystem einfügen wie ihr Smartphone oder ihre Smartwatch. Das bedeutet: Ein Auto, das mitdenkt, vorausahnt und sich so anfühlt, als wäre es genau für sie gemacht.

    Auch die Produktion profitiert erheblich vom SDV-Konzept: Die Entkopplung von Hardware und Software ermöglicht eine effizientere Fertigung, da die Fahrzeuge unabhängig von der finalen Software entwickelt und produziert werden können. Eine Just-in-time-Softwareanlieferung sorgt dafür, dass die aktuelle Softwareversion erst kurz vor oder sogar nach der Auslieferung aufgespielt wird – flexibel, bedarfsgerecht und immer auf dem neuesten Stand.

    Fazit: Die Zukunft des Fahrzeugs liegt im Code!

    Inwieweit profitieren die Fahrzeughalterinnen und Fahrzeughalter von den technologischen Entwicklungen?

    Massing: Ein softwaredefiniertes Fahrzeug bringt zahlreiche Vorteile für die Nutzerinnen und Nutzer, drei möchte ich kurz vorstellen:

    Erstens Over-the-Air-Updates: Ein SDV altert nicht, es reift – wie ein guter italienischer Wein, der mit der Zeit immer besser wird, entwickelt sich auch das Fahrzeug nach dem Kauf kontinuierlich weiter. Neue Funktionen, Performance-Verbesserungen und Sicherheitsupdates können jederzeit eingespielt werden – ohne einen Besuch in der Werkstatt.

    Zweitens die personalisierte Nutzererfahrung: Dank softwarebasierter Architektur kann das Fahrzeug optimal auf die individuellen Bedürfnisse der Fahrerin oder des Fahrers eingehen – von intelligenten Assistenzsystemen bis hin zu personalisierten Infotainment-Funktionen.

    Und drittens Sicherheit, Effizienz und Nachhaltigkeit: Intelligente Software optimiert das Energiemanagement, erhöht die Reichweite bei E-Fahrzeugen und sorgt für vorausschauende Wartung. So bleiben Fahrzeuge nicht nur sicher, sondern auch effizient und nachhaltig.

    Wo stehen wir als deutsche und europäische Automobilindustrie beim SDV im weltweiten Vergleich und welche sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren?

    Massing: Bei softwaregetriebenen Architekturen dominieren vor allem chinesische Unternehmen, gefolgt von US-amerikanischen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt für Deutschland und Europa in den folgenden Maßnahmen:

    Erstens: Aufbau einer eigenen Halbleiter- und Cloud-Infrastruktur: Eine stärkere europäische Unabhängigkeit in der Chip- und Cloud-Entwicklung ist notwendig, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

    Zweitens die Entwicklung von und mit Künstlicher Intelligenz: Die Integration von Künstlicher Intelligenz ins Fahrzeug und in unsere Arbeitsprozesse muss weiter vorangetrieben werden. Kundinnen und Kunden erleben durch KI eine flexiblere und effizientere Steuerung von Funktionen für eine noch individuellere Nutzererfahrung. Und das Unternehmen profitiert von verkürzten Entwicklungsphasen durch optimierte Entwicklung und Validierung.

    Außerdem geht es um die Zusammenarbeit zwischen Industrie und Politik: Regulierungen sollten innovationsfördernd gestaltet werden, um technologische Fortschritte schneller in die Serie zu bringen. Die europäische Künstliche Intelligenz-Verordnung legt bereits vielversprechende Grundlagen für eine datengetriebene Entwicklung mit KI. Darüber hinaus bedarf es weiterer konkreter Maßnahmen und Beschlüsse zu zukunftsentscheidenden Ressorts, beispielsweise zum Aufbau eigener Chip-Produktionen sowie leistungsfähiger Cloud-Infrastrukturen.

    Wie gehen Sie gemeinsam mit Ihrem Team vor, um bei der Entwicklung von Software-definierten Fahrzeugen erfolgreich zu sein?

    Massing: Unser Ansatz bei Mercedes-Benz basiert auf drei zentralen Prinzipien:

    Erstens eine eigene Entwicklungsplattform: Wir haben eine vollständig integrierte Entwicklungsumgebung geschaffen, die schnelle, KI- und datengetriebene, agile Softwareentwicklung, -tests und –deployments ermöglicht.

    Zweitens: eine volle Kontrolle über den Software-Stack (Anm. d. Red.: siehe Erklärung unter dem Text). Das heißt, dass unser selbstentwickeltes Mercedes-Benz Operating System von Grund auf als Mercedes eigene Softwarearchitektur konzipiert ist. Dadurch wird eine optimale Steuerung der Fahrzeugsoftware durch unsere Ingenieurinnen und Ingenieure nach den Kundenbedürfnissen gewährleistet.

    Und drittens die Hardware-Agnostik (Anm. d. Red.: siehe Erklärung unter dem Text): Durch eine modulare Architektur können Softwarelösungen unabhängig von der Hardware über verschiedene Fahrzeugmodelle und -generationen hinweg wiederverwendet werden. Die Vorteile machen uns effizient und beschleunigen die Entwicklungszyklen. Unser Ziel ist es, eine automobile „Silicon Valley“-Mentalität mit der Mercedes-Benz Ingenieurskunst zu kombinieren, um technologisch führend zu bleiben.

    In einer Session haben Sie gemeinsam mit Christian Salzmann (BMW Group), Detlef Zerfowsky (ETAS) und Dr. Elmar Pritsch (Deloitte) diskutiert, wie Software das Auto an sich neu definiert. Welche gemeinsamen Herausforderungen sehen Sie?

    Massing: Nicht mehr PS und Hubraum bestimmen die Innovationsführerschaft, sondern intelligente Algorithmen und leistungsstarkes Computing im Zeitalter neuer elektrischer Antriebsstrangtechnologien für eine maximale Reichweite trotz maximaler Performance- und Software-definierter, rechenintensiver Fahrzeugfunktionen. Im Wettbewerb sind Geschwindigkeit und Innovationskraft in der Entwicklung entscheidend, um nicht bereits morgen veraltete Technologie anzubieten.

    Ein grundlegender Wandel zeichnet sich ab: Statt die Software der Hardware anzupassen, definiert nun die Software die Hardware – ein Paradigmenwechsel in der Automobilindustrie. Neuronale Netze, hochauflösendes Gaming und Streaming im Fahrzeug sowie die Bündelung komplexer Softwarefunktionen erfordern wassergekühlte Supercomputer und leistungsstarke Graphik-Chips, die optimiert auf Softwarealgorithmen sind. Ein Beispiel ist die Entwicklung von neuromorphischen Chips (Anm. d. Red.: siehe Erklärung unter dem Text) für das Rechnen neuronaler Netze im Fahrzeug.

    Drei zentrale Herausforderungen kristallisieren sich dabei heraus:

    Traditionell sind Fahrzeuge ein Zusammenspiel zahlreicher Zulieferer mit eigenen, oft proprietären Systemen. Der Wechsel zum Software-Defined Vehicle erfordert jedoch eine durchgängige, integrierte Architektur – vom Sensor bis zur Cloud. Es geht also um Integration statt Insellösungen. Während Softwareunternehmen im Wochentakt Updates veröffentlichen, erfordert die Automobilbranche höchste Sicherheits- und Zuverlässigkeitsstandards. Die Herausforderung besteht darin, agile innovative Softwareentwicklung mit strengen regulatorischen Anforderungen in Einklang zu bringen.

    Eine weitere Herausforderung ist der Wettlauf um digitale Souveränität. Während Tech-Giganten zunehmend in den Mobilitätssektor vordringen, muss die Automobilbranche ihre eigene Innovationskraft behaupten. Die Frage ist: Wird das Auto der Zukunft von traditionellen Automobilherstellern entwickelt – oder weitestgehend von Softwarekonzernen?

    Fest steht: Wer die Software beherrscht, definiert das Fahrerlebnis. Die Automobilindustrie muss daher nicht nur ihre technische Kompetenz erweitern, sondern auch ihre Rolle in einem sich wandelnden Ökosystem neu definieren. Mercedes-Benz hat sich dazu entschlossen eine Softwarecompany zu werden und führend in der Entwicklung von Fahrzeugsoftware zu sein.

     

    Hinweise der Redaktion:

    Ein „Software-Stack“ (Solution-Stack oder auch nur Stack genannt) ist ein Stapel von aufeinander aufbauenden Softwareschichten, bestehend aus verschiedenen Software-Komponenten, um als Plattform die Ausführung einer gemeinsamen Anwendung zu unterstützen.

    Der Begriff „hardware-agnostisch“ bedeutet, dass eine Software oder ein System unabhängig von der zugrunde liegenden Hardware-Plattform funktioniert. Das wird unter anderem durch Abstraktionsschichten, Virtualisierung der Hardware und standardisierte Schnittstellen in der Software erreicht.

    Ein „neuromorpher Chip“ ist ein Mikrochip, der nach dem Beispiel von natürlichen Nervennetzen gebaut wird. 

     

    Bildnachweis: VDA/Ch.Lietzmann/M.Schwarz

    Fahrzeugtechnologien & Eco-System

    Michael Bauer

    Leiter der Abteilung